Für viele Menschen ist Papier einfach Mittel zum Zweck – etwas, auf dem man schreiben, malen oder drucken kann. Oder ein Material, aus dem man Papierflugzeuge und Origamiblumen bastelt. Es würde aber wohl kaum jemand darauf kommen, etwas Komplexes wie ein Planetarium aus Papier zu bauen. Oder?

Kelli Anderson schon! Die junge Designerin aus Brooklyn ist neugierig, experimentierfreudig und gestaltet gewöhnliche Objekte neu, um überraschende Erlebnisse zu schaffen. Sie versuche bei ihrer Arbeit immer die verborgenen Talente im Alltäglichen zu entdecken und sichtbar zu machen, erzählt sie uns im Interview. Dabei nutzt sie das simple, aber vielfältige Material, um raffinierte Papierkunst anzufertigen. Der Clou: Ihre Projekte sehen nicht nur schick aus, sondern verfügen über durchdachte Funktionen.

 

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I’ve been getting some polite-but-firm resistance to my attempts at making „an author photo.“

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Wie man mit Papierkunst die Welt erklärt

Wenn Kelli sich ans Werk macht, geht das nicht ohne ihren Computer und einen Papierschneider – allerdings auch nicht, ohne sich tiefgründige Gedanken zu machen. Denn die junge Frau möchte mit ihrer Arbeit zum Nachdenken und Lernen anregen. Ihr selbst gesetztes Ziel: „Ich möchte schöne Dinge erschaffen, die unterhaltsam sind und dabei die Komplexität der Welt genau widerspiegeln.“ Kellis Papierkunst hat daher viel mit Mathe, Physik und Technik zu tun.

Eigentlich ist Papier etwas so Alltägliches, dass es nur allzu leicht unterschätzt wird. Doch Kelli Anderson gelingt es, Papier und die Welt damit neu zu entdecken. Statt Origamischwäne zaubert sie einzigartige Bücher mit Funktion, musikalische Hochzeitseinladungen oder erklärt gar den menschlichen Körper (Tinybobs App Der menschliche Körper). Die Prototypen für ihre Werke bastelt Kelli immer selbst, damit sie die Objekte auf Herz und Nieren prüfen kann. So ging auch ihren bekannten Pop-up-Büchern „This Book is… a Camera“ und „This book is… a planetarium” eine sehr lange Testphase voraus.

„This book is…”: ein Buch, eine Kamera – ein Buch, ein Planetarium

Kelli erklärt die Welt, wie sie ihr gefällt – beispielsweise in Form von Pop-up-Büchern, die zum Anfassen, Ausprobieren und Mitmachen animieren. In „This book is… a camera“ steckt eine auffaltbare Lochkamera, mit der erklärt wird, wie eine Kamera funktioniert. Fotografieren kann man damit natürlich auch. Die Anleitung und alle nötigen Materialien werden gleich mitgeliefert.

Auch bei „This book is… a planetraium“ vereint Kelli Anderson Theorie und Praxis. Seite für Seite gibt es spannende Dinge zu entdecken: Vom Musikinstrument über ein Kalendarium bis hin zum Planetarium oder einem Lautsprecher macht es die Künstlerin möglich, Bekanntes auf spielerische Art und Weise neu zu erleben. In ihrem zweiten Buch reduziert sie vertraute Black-Box-Tech-Objekte auf Papier und ermöglicht eine direkte Interaktion mit Licht, Schall und Zeit.

Scheitern als Ansporn noch besser zu werden

Funktioniert bei ihrer Arbeit (technisch) etwas nicht auf Anhieb, bleibt Kelli locker und entspannt. Statt sich über das Scheitern zu ärgern, nutzt sie es, um herauszufinden, warum es nicht wie gewünscht funktioniert – „Oh, das ist interessant“. Vor allem bei ihren Büchern hat sie anfangs ständig damit gerechnet, dass diese bei der Nutzung kaputt gehen. Letztendlich hat sie es aber geschafft, die Werke massentauglich zu machen. Aktuell arbeitet sie bereits am nächsten funktionalen Pop-up-Buch: einem Plattenteller.

Kellis kreativer Prozess: ablehnen, neuordnen, überraschen

Doch wie kommt Kelli auf ihre außergewöhnlichen Ideen? Sie hinterfragt schlicht das Alltägliche. Dabei möchte sie nicht nur verstehen, wie es funktioniert, sondern auch warum es genau so funktioniert. Wenn sie dabei auf etwas stößt, was in ihren Augen keinen Sinn ergibt, fühlt sie sich herausgefordert und wird kreativ. Sie sucht nach einer Lösung. In diesem Moment bringt sie etwas Bekanntes einfach durcheinander und ordnet es für sich neu. So entsteht ihre Papierkunst. Mit ihren vielfältigen Projekten zeigt sie immer wieder, wie man seine Erwartungen und die Realität durch Ablehnen und Neuordnen erweitern kann.

Diese Einstellung und ihren Optimismus versucht sie auch in ihren Kursen – Informationsästhetik und Papiertechnik – an der „Parsons Art and Design School“ und der „School of Poetic Computation“ in New York weiterzugeben. Ihre Studenten sollen lernen, wie man Dinge und Daten in einer reizüberfluteten Welt filtert, unabhängig beurteilt und am besten visualisiert. Doch nicht nur in den USA referiert sie über ihre Methoden, versprüht ihren nachdenklichen Optimismus und sucht den Austausch mit anderen Designern. Kelli ist weltweit aktiv und gehörte 2019 beispielsweise zu den Hauptrednern des Forward Festivals 2019 in Wien, Zürich, München und Hamburg – passen sie und ihre Designs doch perfekt zum Festivalmotto „The odd one out“.

3 Fakten über Kelli Anderson

  • Die ersten Entwürfe eines Projekts zeichnet sie immer mit der Hand.
  • Sie wünscht sich einen „Craft Robo“-Laserschneider.
  • Sie möchte ihre Arbeit gerne mal auf der „New York Art Book Fair“ präsentieren.

Erfolgreiche Papierkunst dank Social-Media-Schubkraft

Kelli weiß die Vorteile des digitalen Zeitalters sehr zu schätzen. Sie nutzt vor allem Instagram und Twitter, um sich zu präsentieren, neue Projekte zu finden und mit Gleichgesinnten auszutauschen: „Für jemanden wie mich, der ungewöhnliche Designs gestaltet, ist es mit den sozialen Medien und der globalen Vernetzung einfacher geworden, sein Ding zu machen und ein Publikum zu finden. Ohne eine eigene Plattform, auf der ich meine Projekte präsentieren kann, könnte ich als Designer nicht erfolgreich sein.“

Auf der anderen Seite kann man sich durch Social Media natürlich auch Anregungen und Inspiration holen. Doch das allein reicht Kelli Anderson nicht aus. Sie ist wissensdurstig und „hungrig“ auf Neues. Daher liest sie viele Bücher und Zeitschriften, besucht Museen, Galerien, Ausstellungen und Buchmessen, um stets auf dem Laufenden zu sein.

Kelli ist wissensdurstig und immer neugierig. Inspiration findet in Büchern, bei Ausstellungen und in den sozialen Netzwerken. Sie fasst das gerne mit dieser Grafik zusammen

Inspirierend findet sie auch Designer wie den niederländischen Grafikdesigner und Typographen Karel Martens und den „Vater“ des Panton Chairs von Vitra, den dänischen Architekten und Designer Verner Panton. Angehenden Künstlern legt sie das Buch „Seeing Is Forgetting the Name of the Things One Sees” von Robert Irwin und die Bücher von Tibor Kalman nahe – „das sollte jeder im Kunststudium gelesen haben“.

Über Design, den Kontext und Trends

Ob ein Design gut oder schlecht ist, liegt für Kelli nicht unbedingt nur im Auge des Betrachters. Für sie ist Design nicht subjektiv, der Kontext ist entscheidend. „Die Schriftart Comic Sans passt beispielsweise gut zu einem Comic für Kinder, allerdings würde sie bei einer Traueranzeige deplatziert wirken,“ erklärt Kelli. „Jeder Designer weiß, wie er etwa Farbe richtig einsetzt, um Emotionen zu wecken. Doch in anderen Kulturen, die ein grundlegend anderes Verständnis von Ästhetik haben, können Farben und Symbole eben etwas ganz anderes bedeuten.“ Und so kann gutes Design durch den falschen Kontext missverstanden werden.

Kelli sieht sich selbst nicht als Trendsetterin. Für sie geht es eher darum, bestehende Trends aufzugreifen und dann das sichtbar zu machen, was sich unter der Oberfläche befindet – eben darum, die versteckten Möglichkeiten in bereits vorhandenem bzw. dem Alltäglichen zu entdecken.

„New York Times“ kunstvoll inszeniert – eine utopische Sonderausgabe

Vor über 10 Jahren, im Herbst 2008, war Kelli Anderson an einem Kunstprojekt von Steve Lambert und der Organisation „The Yes Man“ beteiligt. Das Team fälschte die „New York Times“. Nicht einfach so, sondern für einen guten Zweck: Hoffnung und Optimismus. Da die echten Nachrichten meist recht deprimierend sind, wollten sie zumindest einen Moment lang eine „bessere, optimistischere Welt“ schaffen. Damit die Fake-NYTimes glaubhaft wurden, musste optisch einfach alles stimmen. Kelli kümmerte sich um die Gestaltung der Anzeigen, statt Möbel wurden beispielsweise erneuerbare Energien „to go“ beworben.

An einem Morgen wurde die Spezialausgabe direkt vor der Times-Redaktion in New York an Passanten verteilt – mit nur drei Unterschieden zum Original: Die Zeitung enthielt durchgehend positive Berichterstattung über erfreuliche Situationen, wie etwa dem Ende des Irakkriegs. Das Datum der Ausgabe war sechs Monate vordatiert und der Claim der New York Times war leicht abgewandelt. Die Reaktionen der Leser, aber auch die Berichterstattung in anderen Medien sorgte an diesem Tag für gute Laune und Hoffnung.

Quellen: https://kellianderson.com/blog/, https://www.ted.com/talks/kelli_anderson_design_to_challenge_reality, http://kellianderson.com/books/

Bildquellen: Kelli Anderson, https://kellianderson.com/blog/, https://www.instagram.com/kellianderson/